Wenn das Essen nicht mehr schmeckt und der Durst versiegt
Nach meiner Erfahrung sollte zuerst ermittelt werden, ob körperliche Ursachen der Grund für das Ernährungsproblem sind. Eine umfangreiche Checkliste für Fachkräfte ist das PEMU-Assessment, welches mögliche Ursachen systematisch auflistet.
Verändertes Geschmacksempfinden
Die Speisen oder Getränke schmecken nicht. Dies ist häufig der Fall, wenn der Betroffene neu in eine Pflegeeinrichtung eingezogen ist, seine Essgewohnheiten noch nicht bekannt sind oder er/sie in einem Krankenhaus versorgt werden muss. Gerade im Krankenhaus besteht durch das eingeschränkte Essens-Angebot selten die Möglichkeit auf individuelle Wünsche einzugehen. Angehörige sind wichtige Informationsquellen für Pflegekräfte. Ein dementiell erkrankter Mensch, der nie Süßes zum Frühstück gegessen hat, wird in der Regel auch im Pflegeheim oder Krankenhaus sich nicht über Marmeladenbrötchen freuen sondern etwas Deftiges verlangen. Die simple Informationsweitergabe, was und wie viel, der Betroffene zu welchen Mahlzeiten gern oder gar nicht gegessen hat, löst häufig Ernährungsprobleme. Informationen zur Essbiografie
Veränderung des Geschmacksempfinden spielt eine weitere bedeutende Rolle bei Essproblemen. Jeder gesunde Mensch kann bestätigen: Wenn das Essen schmeckt, isst man gerne und viel. Wie ist das aber im Alter? Im Alter verändert das „Schmecken“ die Essgewohnheiten, da die Geschmacksknospen weniger werden. Früher geliebte Speisen werden abgelehnt und nicht mehr als schmackhaft empfunden. Süß und Bitter werden am längsten wahrgenommen, was auch die Vorlieben für Süßes bei älteren Menschen erklärt. Wurst mit Zucker und das Wurstbrot schmeckt wieder. Aber nicht nur das Geschmacksempfinden lässt nach auch das Geruchsempfinden. Halten sie sich beim Essen die Nase zu und versuchen sie zu schmecken was sie gerade im Mund haben; schwierig. So empfinden auch viele Senioren. Wenn das Essen schlecht gewürzt oder geschmacklos ist wird zwangsläufig weniger gegessen.
Zahnschmerzen und Mundgesundheit
Die im Alter herabgesetzte Kaufähigkeit ist im wesentlichen durch Gebissschäden und Prothesen bedingt. Geäußerte Klagen wie, das Brot oder das Fleisch sei zu hart legen die Überlegung nahe, dass altersbedingte Veränderungen des Geschmackssinnes, sowie gebissbedingte Einschränkungen, Empfindlichkeiten und Probleme beim Essen hervorrufen. Doch selbst wenn die Schwierigkeiten beim essen auf die Zähne zurück geführt werden können, bleibt immer noch das Problem mit dem Zahnarzt. Wie bekomme ich meinen dementiell erkrankten Angehörigen zum Zahnarzt oder noch besser, den Zahnarzt zum Patienten. Doch auch hierzu lassen sich inzwischen positive und innovative Entwicklungen erkennen. Die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin bietet inzwischen eine Reihe von Informationen und Serviceleistungen an, bis hin zur Suche eines Zahnarztes, welcher auf die Behandlung von Senioren und dementiell erkrankter Menschen spezialisiert ist. Gesunde Zähne steigern nicht nur das Wohlbefinden, sondern reduzieren das Risiko für andere Erkrankungen, wie z.B. Schlaganfall oder Lungenentzündungen.
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Generell sollte bei Essproblemen und ablehnendes Verhalten an krankhafte Störungen im Mund/Rachenraum gedacht werden. Weitere mögliche Ursachen können Entzündungen der Mundschleimhaut oder des Halses sein, sowie schmerzhafte Verletzungen der Zunge.
Verdauungsprobleme
Wandert man gedanklich den Verdauungstrakt in Richtung Ausgang lassen sich weitere Ursachen erschließen. Krankhafte Störungen im Magen-Darm Trakt können zwangsläufig das Essverhalten negativ beeinflussen. Wichtigster Hinweis auf solche Ursachen sind Übelkeit und Erbrechen. Während Erbrechen deutlich von Pflegenden wahrgenommen werden kann, lässt sich ab einem bestimmten Schweregrad der Demenz nur sehr schwer feststellen, ob der Betroffen unter Übelkeit leidet. Er wird es nur dadurch signalisieren, indem er Speisen und Getränke ablehnt. Ob eine Gastritis (Magenschleimhautentzündung) vorliegt oder nicht kann nur durch eine entsprechende ärztliche Diagnostik ermittelt werden. So kann z.B. bei einer Gastritis eine medikamentöse Behandlung in den allermeisten Fällen die Symptomatik lindern und das Ernährungsproblem beheben. Ebenso beachtenswert, wenn wir uns dem natürlichen Ausgang des Magen-Darm-Trakts nähern, ist die Förderung eines regelmäßigen Stuhlganges. „Wenn unten zu ist passt oben nichts mehr rein“, klingt banal, doch eine Obstipation (Verstopfung)
kann ebenso zu Ernährungsproblemen führen.
Basierend auf meiner langjährigen Erfahrung als Krankenpfleger, möchte ich auf die nachfolgenden Ursachen besonders deutlich hinweisen. Es sind für mich die häufigsten Gründe, wenn Demenzkranken Essen oder Trinken ablehnen.
Nebenwirkungen von Medikamenten
Viele Medikamente können Übelkeit und Beeinträchtigung der Geschmacksempfindung auslösen. Oft sind bei Senioren die Einnahme von Medikamente unumgänglich. Nicht erst seit Einführung der Pricus-Liste ist die Kritik an der Vielzahl der Medikamente, welche Senioren verschrieben bekommen in der Kritik. Während kognitiv gesunde Menschen die Fähigkeiten besitzen, die Nebenwirkungen wahrzunehmen und diese zu äußern, ist jene Fähigkeit bei dementiell erkrankten ab einem bestimmten Stadium meist nicht mehr vorhanden. Der Betroffene kann sein Unwohlsein nur dadurch signalisieren, indem er/sie Essen und Trinken ablehnt. Besprechen sie gemeinsam mit dem behandelnden Arzt, bzw. Hausarzt, ob das eine oder andere Medikament reduziert werden kann. Hervorzuheben in der Vielzahl der Medikamente ist die Gruppe der Psychopharmaka. Diese Medikamente werden nach meiner Erkenntnis immer noch viel zu häufig und unkontrolliert bei dementiell erkrankten Menschen verabreicht.
In einem Script weist der Jurist Lutz Barth auf die Pflichten des Arztes bei der Verordnung von Psychopharmaka hin: Grenzen der Bedarfsmedikation durch das Pflegepersonal
. Die selbständige Gabe von Psychopharmaka durch Pflegekräfte unter dem Deckmantel der Bedarfsmedikation entspricht zwar dem Vorgehen in der Praxis, nicht aber den rechtlichen Grundlagen.
In der nachfolgenden Tabelle finden sie eine exemplarische Darstellung weiterer Medikamente und deren Auswirkung auf die Ernährung:
Appetitverlust | Digoxin, Captopril, Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), Antibiotika, Digitalis, Antihistaminika, Sedativa, Neuroleptika, Tricyclica, Tranquillizer |
Gestörtes Geschmacksempfinden | Captopril, Penicillin, Antihypertensiva, Analgetica, Antidiabetica, Psychopharmaca, Zytostatica, Vasodilatatoren |
Mundtrockenheit | Anti-Parkinson-Mittel, Tricyclica, Antihistaminica, Anticholinerge Mittel, einzelne psychtropische Medikamente |
Übelkeit | Antineoplastische Medikamente (Zytostatica), Antihypertensiva |
Somnolenz | Psychopharmaca |
Quelle: MDS (2003) Grundsatzstellungnahme. Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen. S. 120
Schluckstörungen
Der Schluckvorgang, welcher für den gesunden Menschen selbstverständlich und unbewusst abläuft, kann im Alter zu einem Problem werden. Bei über 80jährigen ist eine Reduzierung der Peristaltik des Schlund-Rachenbereiches und ein leicht verzögertes Eintreten des Schluckreflexes festzustellen. Dies gilt natürlich ebenso für dementiell erkrankte Menschen. Schluckstörungen im Endstadium der Erkrankung sind fast immer zu erwarten. Auch hier sind es wieder Psychopharmaka, welche Schluckstörungen verursachen. Doch nicht zwangsläufig, wenn Schluckstörungen auftreten, muss eine PEG-Sonde gelegt werden. Durch Veränderung der Konsistenz der Speisen und Getränke, können Schluckstörungen lange kompensiert werden und das gefürchtete Eindringen von Nahrungsbestandteilen in die Lunge (Aspirationspneumonie) verhindert werden. Wenn es dennoch dazu kommt, dass der Betroffene sich verschluckt, ist es immer noch fraglich, ob eine PEG-Sonde Abhilfe schaffen kann. Ein positiver Nachweis ist in Studien bisher nicht belegt, dennoch ist es eine Option, welche bei klarer Zielsetzung erwogen werden kann. Wichtig ist es aber, Schluckstörungen rechtzeitig zu erkennen, dies geschieht oft noch zu selten. Die spezialisierte Berufsgruppe bei Schluckstörungen (Dysphagie) sind die Logopäden. Sie sollten grundsätzlich bei Verdacht auf Schluckstörungen hinzugezogen werden. Die deutlichsten Alarmsignale bei Schluckstörungen sind das häufige Verschlucken und Husten beim trinken und essen und das „brodeln“ in der Lunge nach dem trinken. Pflegefachkräfte verfügen auch über spezielle Tests, mit denen sie Schluckstörungen frühzeitig erkennen können.
Schmerzen
Einer der häufigsten Gründe, aus meiner Erfahrung, ist das Erkennen, leider oft „Nicht-Erkennen“, von Schmerzen bei dementiell erkrankten Menschen.
Dementiell erkrankte Menschen empfinden genau so Schmerzen wie kognitiv gesunde Menschen. Das Problem ist, dass sie dieses Phänomen nicht mehr verstehen und anderen Menschen nicht mehr verbal mitteilen können. Auf die Frage: „Haben sie Schmerzen?“, antworten sie mal mit „Ja“ oder mit „Nein“. Doch ab einem bestimmten Schweregrad der Demenz ist nicht mehr die verbale Antwort entscheidend sondern das Verhalten, die Mimik und die Gestik. Ein schmerzverzerrtes Gesicht ist ein sehr deutlich Hinweis, dass Schmerzen vorliegen könnten. Wer unter Schmerzen leidet kann sich nicht konzentrieren. Einfachste Bewegungsabläufe sind beeinträchtigt. Nach einer adäquaten Schmerzmittelgabe (die Dosierung muss oft höher sein wie bei gesunden Menschen, da der Placebo-Effekt nicht greift) können Bewegungsabläufe plötzlich wieder nahezu unbeeinträchtigt durchgeführt werden. Ich habe es oft genug erlebt. Der Ausschluss von Schmerzen, als Ursache für herausforderndes Verhalten, lohnt sich immer. Ich denke kein Mensch wünscht sich, wenn er Schmerzen hat, mit Psychopharmaka „vollgestopft“ zu werden, damit er nicht mehr stört, wenn seine Unruhe, sein Schreien und seine Rastlosigkeit mit Schmerzmitteln behandelt werden kann. Erfahrene Pflegefachkräfte können Schmerzen anhand von nonverbalen Äußerungen zu erkennen.
Pain Assessment in Older Adults from Hartford Institute – NYU on Vimeo.
Einen Artikel zu den Stärken und Schwächen der bisher vorhandenen Instrumente zur Schmerzerfassung dementiell erkrankter Menschen finden sie auf der Internetseite des pflegewissenschaftlichen Instituts der Charite, sowie eine Darstellung zur bisherigen Forschung zu den Assessment-Instrumenten, inkl. der deutschen Übersetzung der BISAD.
Eine weitere Skala ist die BESD, ursprünglich PAINAID, welche von der DEUTSCHEN GESELLSCHAFT ZUM STUDIUM DES SCHMERZES e.V. (DGSS) übersetzt und für den deutschen Sprachraum weiter entwickelt wurde: BESD