Teil 2: Wissenschaft sponsored by …
Im ersten Teil meiner Serie Mangelernährung in Pflegeheimen habe ich Presseartikel vorgestellt, die Mangelernährung bei Senioren und pflegebedürftigen Menschen thematisieren und Informationen reißerisch darstellen. Es stellt sich konsequenterweise die Frage, wie kann den vielen Betroffenen geholfen werden? Die Industrie hat hierzu eine klare Antwort: Trinknahrung. Je mehr Mangelernährung unter Senioren grassiert, umso mehr Umsatz. Trinknahrung hilft, es fragt sich nur wem?
Das Lieblingsstudienobjekt angehender Ernährungswissenschaftler: Die Trinknahrung
Bevor ich ihnen im dritten Teil der Serie Zahlenspiele der Industrie zum Ausmaß von Mangelernährung in deutschen Pflegeeinrichtungen vorstelle, erläutere ich zuvor in diesem Teil die Leitlinie, die einen Nutzen von Trinknahrung belegen soll.
Zunächst beeindruckt die Tatsache, dass in den letzten 25 Jahren mehr als 60 randomisiert-kontrollierte Studien durchgeführt wurden, die die Effekte von Trinknahrung bei älteren Menschen untersucht haben. Die Anzahl der Studien zur Verbesserung des Ernährungszustandes, wenn ausreichend Pflegepersonal anwesend ist, geht gegen Null. Erstaunlich wie viel Geld ausgegeben wird und vor allem: Wer hat all diese Studien finanziert? Selbstverständlich wissen alle Experten, dass der Nutzen einer Trinknahrung sich nur sehr schwierig nachweisen lässt, da der Ernährungszustand von vielen Faktoren beeinflusst wird, die sich in einer Studie nur schwer isolieren lassen. Doch man scheut keine Kosten und Mühen, um viele viele Studien durchzuführen, mal mit mehr, mal mit weniger überzeugenden Ergebnissen: Quantität vor Qualität. Bei vielen Fragestellungen, bei denen eine Studie einen Nutzen von Trinknahrung nachweist findet sich auch wieder eine Studie, die einen Nutzen nicht bestätigen kann. So wird eine Cochrane-Studie von Milne et al sehr gerne in der Leitlinie zitiert, die alle Studien zur Effektivität von Trinknahrung analysiert und zusammenfasst. Deren wichtigsten Ergebnisse, wie sie in der Leitlinie zitiert werden, sind:
- Bei 3058 älteren Teilnehmern konnte eine durchschnittliche Gewichtszunahme von 2.2% erzielt werden. So hat jemand der vorher (Zeitraum unbekannt) 60 kg gewogen hat eine gute Chance dank Trinknahrung mal irgendwann 61.2 kg zu wiegen. Eine Schwankungsbreite, die auch bei mir an manchen Tagen auftritt (Kurze Anmerkung des Autors)
- Auch der Armmuskelumfang (eigentlich ist es der Oberarmumfang, mit „Muskel“ klingt es überzeugender) hat bei 1382 Probanden im Schnitt um 1,2 % zugenommen. Hat jemand zuvor 25 cm Oberarmumfang, schwillt dieser, dank Trinknahrung, irgendwann vielleicht auf 25.3 cm an. Schwarzenegger hätte sich damals mit so einem Zuwachs sicher nicht zufrieden gegeben, doch immerhin.
- Bezüglich der Komplikationsreduzierung durch Supplementierung von Trinknahrung ist man ganz knapp am Zufall vorbei, dank des Relativen Risikos von 0.86 (Entscheidend ist immer das Konfidenzintervall, das nicht die 1 beinhalten darf, sonst ist das Ergebnis zufällig, das liegt hier bei 0.75-0.99, zum Glück gerade noch signifikant. Leider kennen Ernährungswissenschaftler meist nur die Bedeutung von Signifikanz und nur selten die Bedeutung von Relevanz.
- Eine Verbesserung der Handkraft konnte nicht festgestellt werden.
- Eine Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit konnte nicht festgestellt werden.
- Kein lebensverlängernder Effekt bei allen Senioren mit einem Risiko für Mangelernährung und einer Mangelernährung. Allerdings bei ausschließlich mangelernährten Probanden ist man wieder knapp am Zufall vorbeigeschrammt. Hier ergab sich bei 2466 älteren Probanden ein relatives Risiko von 0.78 bei einem Konfidenzintervall 0.64 bis 0.97
Ein Satz auf Seite 8 in der Leitlinie erstaunt dann doch wieder den Realisten: “ Außerdem wurden in vielen Studien schwer mangelernährte Patienten, die sicher am meisten profitieren, aus ethischen Gründen ausgeschlossen.“ Der Tod ist für Ernährungswissenschaftler nicht existent.
Euphemistisch dargestellter Nutzen von Trinknahrung
Unmengen an Studien von aufstrebenden Ernährungswissenschaftlern und doch fehlt ein richtiger Nachweis. Aber die Investitionen müssen sich lohnen, so kommt die DGEM, wie in Abbildung 1 dargestellt, zu einem trotzdem sehr eindeutigen Ergebnis: Alle alten Menschen die nicht mehr so gut essen, sollten alle Trinknahrung bekommen. Dank Sponsoring waren sich alle Wissenschaftler einig. Deswegen werden auch keine Kosten und Mühen gescheut, um seitens der Industrie noch mit Kosteneffizienz und Budgetrelevanz-Studien aufzuwarten. Zwar keine davon in Deutschland, aber auch das nimmt man nicht so genau. Würde man so viel Geld in die Pflege investieren, es gäbe wahrscheinlich weniger mangelernährte Senioren in Deutschland. Doch das bleibt nur eine naive Behauptung, Studien fehlen. Mit Pflegekräfte lässt sich kein Gewinn erzielen. Sie erzeugen Kosten und man kann sie nicht verkaufen. Sie erzeugen nur Humanität, die sich leider nicht messen lässt.
Mangelernährung in Pflegeheimen: Jeder zweite oder zwei von Hundert? Teil 1
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Danke für das Zusammentragen der Studien zum Einfluss von Trinknahrung auf mangelernährte Menschen in Pflegeheimen. Gibt es auch Ergebnisse zur Wirkung bei schwerer Krankheit, beispielsweise Krebs? (Hier bei nicht unbedingt nur alten Menschen)
Vielen Dank
Hallo,
vielen Dank für die Rückmeldung. Im Internet findet man die aktuellen Leitlinien alle auf der Internetseite der DGEM oder hier die alten zur Onkologie von 2003